Die Demokratie in Ostmitteleuropa schwächelt
Deutschlandradio Kultur, 21.01.2016
Gerade in Ostmitteleuropa verschärft sich die Rhetorik gegen Flüchtlinge und gegen Europa. Nicht zufällig, meint die Sozialwissenschaftlerin Ulrike Ackermann: Mit Auswanderung haben diese Länder Erfahrung – mit Einwanderung dagegen weniger, das zeigt ein Blick in ihre Geschichte.
Was ist los in Ostmitteleuropa, jenen Ländern, von denen die friedlichen Revolutionen 1989 ausgegangen sind, und die den Eisernen Vorhang, der Europa teilte, zum Verschwinden gebracht haben?
In der Flüchtlingskrise setzen sie noch stärker als ihre westlichen Nachbarn auf Abschottung. Obwohl doch die Reise- und Niederlassungsfreiheit eine zentrale Forderung der Bürgerrechtler im Kampf für die Demokratie gewesen war. Genau jene Freiheiten, die ihnen die Kommunisten in der geschlossenen Gesellschaft vorenthalten hatten.
Die Ungarn öffneten damals als erste die Grenze. Heute pochen sie und die Ostmitteleuropäer – verbunden mit allergrößter Skepsis gegenüber Brüssel – auf nationale Souveränität und Identität. Sie verweigern die Aufnahme von Flüchtlingen und wollen nichts wissen von europäischer Solidarität.
Ostmitteleuropa fehlt Einwanderungserfahrung
Das ist umso ärgerlicher, als die Bürger und Dissidenten, die seinerzeit vor den kommunistischen Diktaturen flohen, in Westeuropa prompte Aufnahme fanden: 200.000 Ungarn zum Beispiel nach der sowjetischen Niederschlagung der Ungarischen Revolution 1956. Weitere Flüchtlingswellen gab es 1968 aus der Tschechoslowakei und Polen, erneut von dort nach Verhängung des Kriegsrechts 1981.
Die Ostmitteleuropäer haben gehörige Auswanderungs-, aber keine Einwanderungserfahrung im eigenen Land. Die Habsburger Vielvölkerstaaten sind graue Vorzeit. Nach den Massenmorden der Nationalsozialisten und Stalins Verwüstungen folgten nach dem Zweiten Weltkrieg die großen Vertreibungen. Unter kommunistischer Regentschaft lebten die Bevölkerungen darauf in vornehmlich ethnisch homogenen und geschlossenen Gesellschaften.
Im Unterschied dazu konnten die Westeuropäer seit den 50er-Jahren immerhin die Erfahrung der Zuwanderung machen. Aber die Entzauberung der ehemaligen Freiheitskämpfer aus unserer östlichen Nachbarschaft geht noch weiter.
Demokratie und Rechtsstaat schwächeln allerorten
In Ungarn schafft der Staatspräsident Victor Orban, ehemaliger Bürgerrechtler, in autokratischer Manier seit einigen Jahren Zug um Zug die mühsam errungenen und etablierten Freiheitsrechte ab. Der bekannte Pianist Andras Schiff hat wie andere aus Protest sein Land verlassen.
In Polen ist die „Partei für Recht und Gerechtigkeit“, die jüngst die Liberalen von der Macht ablöste, gerade dabei, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung auszuhebeln. Die Bürger protestieren. Aber auch regierende Sozialdemokraten in Prag und Bratislava tun sich schwer mit der Freiheit.
Obwohl gerade diese Länder im Herzen Europas auf eine alte Rechtsstaatstradition vor dem Kommunismus zurückblicken können und die Transformation seit 1989 eigentlich gut gelaufen ist, schwächelt hier die Demokratie. Zugleich ist es auch eine Normalisierung.
Freiheit ist nicht ohne Grundrechte zu haben
Denn bei den west- und nordeuropäischen Nachbarn verliert die politische Mitte ebenfalls beunruhigend zugunsten rechter und linker populistischer Bewegungen und Parteien. Die Angst vor Veränderung, vor Globalisierung, vor Fremden, vor sozialem Abstieg, vor dem Verlust der brüchig gewordenen nationalen Identität, und schließlich der Sozialneid haben in ganz Europa ein hässliches Gesicht bekommen.
Die Spaltung zwischen aufgeklärten, kosmopolitisch orientierten, urbanen Eliten und erheblichen Teilen der Bevölkerung im Rest des Landes wird überall größer.
Die Ostmitteleuropäer können mit unserer Solidarität rechnen angesichts der neoimperialen Übergriffigkeiten von Seiten Putins. Aber sie müssen sich, ebenso wie wir, strikt an die rechtsstaatlichen Prinzipien der EU halten, die unsere Grundrechte und westlichen Werte schützen. Sonst sieht es bald noch finsterer aus für die Freiheit.