Politologin über die Spaltung der Gesellschaft
„Die Moralisierung ist ein Riesenproblem“
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann warnt vor einer Lagerbildung in öffentlichen Debatten. Diese „Rudelbildung“ laufe den Errungenschaften der letzten Jahrhunderte zuwider und sei eine Gefahr für die Demokratie.
„Wir leben im Moment in einem Land, das um seinen Zusammenhalt ringt“, sagt die Freiheitsforscherin, Politikwissenschaftlerin und Soziologin Ulrike Ackermann. Als Ursache sieht sie gesellschaftliche Verwerfungen der letzten Jahre, die nicht genügend beachtet worden seien. Zum Beispiel die Folgen von Digitalisierung und Globalisierung, vor allem jedoch ein Auseinanderdriften zwischen Stadt und Land.
Diese gesellschaftlichen Entwicklungen spiegelten sich auch politisch wieder, so Ackermann: „Was wir seit einigen Jahren leider beobachten, ist, dass die Kluft zwischen Bevölkerung und politischer Klasse – und zur politischen Klasse gehören natürlich die klassischen alten Volksparteien – dass diese Kluft immer breiter geworden ist.“ Das sei für die Demokratie und für den Zusammenhalt eines Landes ein großes Problem.
Wie die Politik mit regionaler Identität umgeht
Als Gegenbeispiel nennt Ackermann den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Dieser verbinde sehr geschickt einen neuen Konservatismus mit einem alten Konservatismus. Als grüner Landesvater profiliere er sich sehr erfolgreich, indem er alle Bevölkerungsteile mitnehme, „nicht nur bürgerliche Kreise und junge urbane Eliten in den Städten, sondern auch das Land“. Das mache Kretschmann sehr geschickt.
Ulrike Ackermann: „Offene Debatte, Skepsis, Infragestellung – das sind alles Werte…“ (picture alliance/dpa/Horst Galuschka)
In Ostdeutschland gebe es andere Prozesse. Die AfD knüpfe in den ostdeutschen Ländern an das an, was die Linke seit vielen Jahren vertrete, „nämlich dass die Ostdeutschen eigentlich ein Opferkollektiv sind, dass sie von den Westdeutschen kolonialisiert worden sind, überrannt worden sind, beraubt ihrer ostdeutschen Identität“, so Ackermann. Damit habe die Linke immer gespielt, und damit habe auch die AfD Erfolg. „Darauf haben die bürgerlichen Parteien viel zu spät reagiert.“
Ideologische Lagerbildung aufbrechen
Auch an den Universitäten erlebe sie eine Spaltung, sagt Ackermann. So gerate die Meinungsfreiheit unter Druck, wenn etwa Redeverbote ausgesprochen würden. Ackermann fordert, dass gerade Intellektuelle sich aus den Hochschulen heraus für die Universalität der Menschenrechte und für die Meinungsfreiheit stark machen sollten. „Offene Debatte, Skepsis, Infragestellung – das sind alles Werte, die wir der Aufklärung verdanken.“
Stattdessen erlebe sie aber, dass sich die Polarisierung hier fortsetze: „Ganz schnell wirft das eine Gesinnungslager dem anderen Gesinnungslager Verrat an der Demokratie und ähnliches vor.“ Die Moralisierung in gesellschaftlichen Debatten sei ein „Riesenproblem“.
Dies sei auch eine Konsequenz der digitalen Revolution: „Zu diesen Folgen zählt ja nicht zuletzt die Blasenbildung im Netz, Gesinnungslagerbildung, die von vornherein antiplural sind, die zu Uniformisierung führen, die einen Opportunitätsdruck aufbauen.“
Ackermann weiter: „Wenn sich immer neue Opfergruppen konstituieren und damit Identitätspolitik betreiben und eine Polarisierung aufbauen, dann sind das Kollektivierungsprozesse, die völlig dem zuwiderlaufen, was wir über Jahrhunderte errungen haben, nämlich die Selbstermächtigung von Individuen aus dem Kollektiven.“
Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist in Gefahr
Die Politologin warnt davor, in „Rudelbildung“ zurückzufallen und Anführern zuzujubeln. Dies gebe es auf der Linken, auf der Rechten und auch in islamistischen Kreisen. Das sei nicht nur gefährlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch für die Demokratie.
Das Gegengift und die Gegenstrategie könne nur sein, dass eine freie Debatte stattfinde, in der individuelle Einzelpositionen hörbar sind und diese ideologische Lagerbildung damit aufgebrochen wird.“
Vor allem eine Verteidigung der Meinungsfreiheit und eine öffentliche Debatte von Angesicht zu Angesicht seien wichtig, so Ackermann.