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Die Gesellschaft reibt sich auf in immer neuen Kollektiven

Die Gesellschaft reibt sich auf in immer neuen Kollektiven
18.07.2020 – nzz.ch

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Unsere westliche Lebensweise scheint zu regredieren: weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und zur Bildung von Horden mit gefeierten Anführern.

Es gab im erschrockenen Schweigen und Stillstand während der Corona-Krise für einen Moment die Hoffnung auf ein Ende polarisierender Debatten und stattdessen die Besinnung auf das, was wichtig ist. Das sind natürlich auch Zustände anhaltender Diskriminierung und fortwährenden Rassismus, auf die unter anderem die «Black Lives Matter»-Bewegung aufmerksam macht.

Doch der Protest ist längst aus dem Ruder gelaufen und favorisiert besonders im akademischen und im kulturellen Feld Forderungen, die am Fundament und am Selbstverständnis unserer freiheitlichen Ordnung rütteln. Sie knüpfen an ideologische Prämissen an, die schon länger die Selbstzweifel hinsichtlich der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation schürten und teilweise in einen westlichen Selbsthass mündeten. Er ist nicht nur rechten und linken Rändern eigen, sondern zunehmend auch in Universitäten, Redaktionsstuben und Kulturinstitutionen beheimatet. Und dies in einer Situation, in der die über Jahrhunderte mühsam errungenen westlichen Freiheiten und Lebensweisen weltweit unter immer stärkeren Druck geraten sind. In den USA und Europa werden von Demonstranten nicht nur Südstaatengeneräle und Profiteure des Kolonialismus und des Sklavenhandels vom Sockel gestürzt. Der militante Bildersturm macht auch vor Christoph Kolumbus oder Winston Churchill nicht halt.

Man will es allen recht machen

Der antirassistische Furor erinnert in seiner Rigidität an den Tugendterror der Jakobiner in der Französischen Revolution, die mit allem Alten brechen und das Vergangene radikal ausmerzen wollten. Bereits seit einigen Jahren tobt dieser Kulturkampf, der immer aberwitzigere Züge annimmt. Historische Bücher werden umgeschrieben, weil das Wort «Negerkönig» anstössig ist. Die Diskurspolizei ist auch an den Universitäten unterwegs. Alte Filme werden aus dem Verkehr gezogen, weil sie aus heutiger Sicht rassistisch sind. Berühmte Bilder werden abgehängt, weil sie sexistisch seien – obwohl sie doch gerade historisch bezeugen, was sich über die Jahrhunderte weiterentwickelt hat.

Es sind Eingriffe zugunsten eines vermeintlich gerechten, politisch korrekten Regimes, das es jeder Ethnie, jedem Geschlecht und jeder Religion recht machen will. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Reinigung hat sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet. Verletzte Gefühle einer Gruppe wiegen plötzlich schwerer als die Prinzipien und die Ausübung der Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Obwohl doch gerade sie Antrieb und Resultat eines jahrhundertelangen Kampfes waren und als hohe Güter unsere Lebensweise auszeichnen.

Inzwischen steht auch schon der Aufklärer Immanuel Kant wegen Rassismus am Pranger, weil er in seinen Frühschriften wie andere seiner Zeitgenossen die weisse «race» als vollkommenste der Menschheit ansah. Eine «Kritik der weissen Vernunft» wird deshalb angemahnt. Doch dem späteren Kant verdanken wir gerade die wegweisende Definition von Mündigkeit und die Entfaltung dessen, was die Würde des einzelnen Menschen ausmacht.

Der Ausgang aus der «selbstverschuldeten Unmündigkeit» war die Selbstermächtigung des Individuums, mit dem Ziel seiner Emanzipation aus kollektiven Zwängen, flankiert von Solidarität und Gemeinsinn. Die Errungenschaft aus dieser zivilisatorischen Leistung über Jahrhunderte hinweg war die Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht – gerade unabhängig von Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Geschlecht oder Religion. Diese Ideale aus der amerikanischen und der Französischen Revolution sind bis heute nicht vollständig eingelöst, aber immer noch treibende Kraft für die Ausweitung der Chancengerechtigkeit.

Neue soziale Bewegungen

Inzwischen scheint unsere Gesellschaft allerdings auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung zu regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und zur Bildung von Horden mit gefeierten Anführern. In den sich selbst bestätigenden Communitys, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen.

Die Identitätspolitik der Rechten favorisiert einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht und die universalistischen Prinzipien der Aufklärung verwirft. Antiwestlich und antiliberal geriert sich aber auch eine Identitätspolitik von links, die an den Hochschulen und im Kulturbetrieb Raum gegriffen hat.

Eigentlich begann es im Zuge der neuen sozialen Bewegungen ab den 1970er Jahren durchaus emanzipatorisch. Mutig schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und gegenwärtige Benachteiligungen aufmerksam und begehrten auf gegen Sexismus und Rassismus. Doch dann breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multikulturalismus aus, der die freiheitlichen Errungenschaften der westlich-europäischen Zivilisation zunehmend relativierte. Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von gesellschaftlicher Diskriminierung verstanden, entwickelten ihre jeweils unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. Eine regelrechte Opferkonkurrenz entstand. Ihr jeweiliger Bezugspunkt ist eine kollektive Identität, die abgeleitet wird aus realer oder vermeintlicher Benachteiligung, der Erfahrung von Unterdrückung oder Verfolgung, die teilweise Jahrhunderte zurückliegen: Frauen, sexuelle Minderheiten, die LGBT-Community, Migranten, ethnische und religiöse Minderheiten. Es geht dabei um Wiedergutmachung erfahrenen Leids und den Wunsch nach sozialer und kultureller Wertschätzung.

Entstanden ist daraus über die Jahrzehnte eine ausgeprägte Identitätspolitik, die ausdrücklich die jeweils kollektive religiöse, kulturelle, sexuelle und ethnische Zugehörigkeit ins Zentrum stellt. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive, die Sonderrechte beanspruchen, um bisherige gesellschaftliche und historische Benachteiligung zu kompensieren. Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communitys entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen.

Polarisierung durch Täter- und Opferkategorien

Wenn ständig in Täter- und Opferkategorien gedacht und agitiert wird, schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt immer mehr und leistet weiterer Polarisierung Vorschub.

Paradoxerweise wird der wohlfeile Antikolonialismus und Antirassismus selbst rassistisch, wenn er die ethnische Herkunft und die Hautfarbe zum essenziellen, identitätsstiftenden Zugehörigkeitskriterium der von der Mehrheitsgesellschaft vorgeblich diskriminierten Opferkollektive macht.

Erschreckend sind zudem die Rigidität und die Wut, die den Wunsch nach Reinigung begleiten: Sprache, Geschichte, Bücher, Plätze, Erinnerung sollen von allem Bösen gesäubert werden. Das ursprüngliche Ansinnen ist totalitär geworden und wäre letztlich eine Entsorgung der Vergangenheit.

Der «Schuldkomplex» (Pascal Bruckner) verleitet angesichts der Greuel des Kolonialismus und der Sklaverei die Mehrheitsgesellschaft zu paternalistischer Überkompensation gegenüber den nachgeborenen «Opfern» – angetrieben vom Wunsch, die Schuld zu tilgen. Vermeintliche Täter und vermeintliche Opfer bleiben so in einer reziproken, komplizenhaften Dynamik gefangen, die einer sachlichen Aufarbeitung der Geschichte im Wege steht.

Die Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation hat uns über die Jahrhunderte den besten Lebensstandard, den wir je hatten, beschert, Partizipation und Freiräume erweitert. Freilich begleitet von grauenhaften Kämpfen, Katastrophen, Diktaturen, kolonialen Verbrechen, vielen Irrtümern und Inkonsequenzen. Wir können diese widersprüchliche Geschichte nicht glattbügeln oder retuschieren. Wir müssen mit ihr leben. Denn Immanuel Kant wusste: «Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.»

Das Kulturmagazin mit Politikprofessorin Ulrike Ackermann

18.03.2020 – hr2-kultur Kulturcafé
Moderation: Daniella Baumeister

Beitrag anhören: https://www.hr2.de/programm/hr2—kulturcafe–das-kulturmagazin-am-nachmittag,id-kulturgespraech-1624.html

Je lauter und polemischer, umso erfolgreicher? Die Heidelberger Politikprofessorin Ulrike Ackermann befasst sich in ihrem aktuellen Buch „Das Schweigen der Mitte“ mit der Tendenz, in der politischen Diskussion zu polarisieren.

Wo bleiben die Vertreter einer politischen Mitte, die ausgleichend und differenziert Problemen auf den Grund gehen? Ulrike Ackermann fordert eine antitotalitäre Selbstaufklärung, um dem Furor des Fundamentalismus entgegen zu treten. Wie das gehen soll und auf wen sie damit zielt, darüber spricht Ulrike Ackermann.