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Sündenfall der Intellektuellen
 
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Auf dem einen Auge blind
Ulrike Ackermann beschreibt den "Sündenfall der Intellektuellen"
Von Marko Martin (Die Welt, 29.07.2000)

Eigentlich weiß man es ja: Stalins Verbrechen, Chruschtschows Geheimrede, die Ereignisse von Budapest und Prag, die Abwendung französischer Intellektueller vom Kommunismus, GULag-Schock und "Neue Philosophen". Und in Deutschland das Aufkündigen eines antitotalitären Konsens im Zuge von '68, die Instrumentalisierung von Auschwitz als Argument gegen die Wiedervereinigung, das Schweigen zu Bosnien.

Fetzen irrlichtern durch die Debatten und Feuilletonbeiträge, doch bleibt der konkrete ideengeschichtliche Hintergrund dieser deutschen und französischen Intellektuellendebatten zumeist ausgespart. Nun hat die Frankfurter Politikwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Ackermann ein Buch vorgelegt, das eben jene "Rekonstruktion von Ideologiebildungen" wagt und sich auf eine "Spurensuche nach den kollektiven Abwehrmechanismen gegenüber offenem, unabhängigem, dissidentem Denken" begibt.

Ein gelungener Versuch, denn die Studie ist gleich in mehrfacher Hinsicht interessant: Als Diskussionsbeitrag über die fortdauernde Aktualität der Totalitarismustheorie, als Aufzeichnung intellektueller Delirien im 20. Jahrhundert, als Zeitspiegel zu den jüngsten Ereignissen - siehe Sarajevo, siehe Kosovo - und nicht zuletzt als detailliertes Handbuch, das endlich auch die Biografien derer erzählt, die bislang lediglich als Stichwortgeber wahrgenommen wurden.

Herrschte diesseits des Rheins in den fünfziger Jahren ein antitotalitärer Konsens, so waren die maßgeblichen französischen Intellektuellen - mit den einsamen Ausnahmen von Raymond Aron und Albert Camus - ideologisch eng mit der Kommunistischen Partei liiert. Der russische Einmarsch in Budapest, spätestens aber die Invasion in Prag, provozierte dann den Bruch mit der Partei - eine Entwicklung, die durch die libertär-radikalen, oft sogar antikommunistischen Tendenzen des Pariser Mai 1968 noch verstärkt wurde.

In Deutschland besann man sich mit wachsendem Abstand zum Dritten Reich stattdessen eines "Antifaschismus", der die Erwähnung des Nationalsozialismus fast schamhaft vermied und den Holocaust hauptsächlich in dem Sinne thematisierte, als sich die Nazi-Greuel als Endkonsequenz des Kapitalismus darstellen ließen.

Man erfährt Ausführliches über die europaweite Arbeit des "Kongresses für kulturelle Freiheit" in den fünfziger Jahren, über Melvin Laskys "Monat" und François Bondys "Preuves" und findet noch einmal schwarz auf weiß dokumentiert, dass die Pioniere der Antitotalitarismustheorie mitnichten verschwiemelte rechte Relativierer waren, sondern linksdemokratische Intellektuelle, die mit Mühe und Not beide Terrorsysteme überlebt hatten. Margarete Buber-Neumann, im GULag und im KZ Ravensbrück interniert; David Rousset, ein Résistancekämpfer und Buchenwald-Überlebender, der sich bereits 1949 für die Deportierten in den sowjetischen Lagern einsetzte; Alexander Weißberg-Cybulski, 1937 in der Sowjetunion verhaftet, 1940 an Deutschland ausgeliefert, danach am Warschauer Ghetto-Aufstand beteiligt.

Was ist der Grund für diese Amnesie, wie konnte es geschehen, dass zu Gunsten abstrakter Faschismus-Kritik die verbrecherische Realität des Kommunismus bis heute kaum zur Kenntnis genommen wird? Ulrike Ackermann erklärt es mit dem abrupten Abbruch einer Tradition. In Frankreich dagegen ein fortgesetztes Gespräch zwischen dem liberalen Raymond Aron, dem ex-maoistischen André Glucksmann, zwischen Daniel Cohn-Bendit und dem Historiker François Furet. Schade, dass es - aus falscher Scheu? - nicht deutlicher erwähnt wird: Die meisten dieser antitotalitären Intellektuellen sind Juden, alte Résistance-Kombattanten wie der inzwischen aber neunzigjährige Historiker François Fejtö oder Söhne Ermordeter wie André Glucksmann. Sie wissen, dass Auschwitz selbstverständlich singulär war und dass gerade aus diesem Grund der genaue Blick auf Vergleichbares gerichtet werden muss. In Deutschland dagegen die germanischen Scheingefechte zwischen linken und rechten Relativierern, Gremliza und Wippermann versus Nolte und Mahler. Eine deprimierende Perspektive.

Marko Martin ist Autor eines Buchs über den "Monat" sowie Herausgeber eines Auswahlbandes von 70 "Monat"-Essays aus vier Jahrzehnten. (Beitz Athenäum Verlag, 2000. 591 S., 98 Mark).

 
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