Eigentlich weiß man es ja: Stalins Verbrechen, Chruschtschows
Geheimrede, die Ereignisse von Budapest und Prag, die Abwendung
französischer Intellektueller vom Kommunismus, GULag-Schock und
"Neue Philosophen". Und in Deutschland das Aufkündigen eines antitotalitären
Konsens im Zuge von '68, die Instrumentalisierung von Auschwitz
als Argument gegen die Wiedervereinigung, das Schweigen zu Bosnien.
Fetzen irrlichtern durch die Debatten und Feuilletonbeiträge,
doch bleibt der konkrete ideengeschichtliche Hintergrund dieser
deutschen und französischen Intellektuellendebatten zumeist ausgespart.
Nun hat die Frankfurter Politikwissenschaftlerin und Publizistin
Ulrike Ackermann ein Buch vorgelegt, das eben jene "Rekonstruktion
von Ideologiebildungen" wagt und sich auf eine "Spurensuche nach
den kollektiven Abwehrmechanismen gegenüber offenem, unabhängigem,
dissidentem Denken" begibt.
Ein gelungener Versuch, denn die Studie ist gleich in mehrfacher
Hinsicht interessant: Als Diskussionsbeitrag über die fortdauernde
Aktualität der Totalitarismustheorie, als Aufzeichnung intellektueller
Delirien im 20. Jahrhundert, als Zeitspiegel zu den jüngsten Ereignissen
- siehe Sarajevo, siehe Kosovo - und nicht zuletzt als detailliertes
Handbuch, das endlich auch die Biografien derer erzählt, die bislang
lediglich als Stichwortgeber wahrgenommen wurden.
Herrschte diesseits des Rheins in den fünfziger Jahren ein antitotalitärer
Konsens, so waren die maßgeblichen französischen Intellektuellen
- mit den einsamen Ausnahmen von Raymond Aron und Albert Camus
- ideologisch eng mit der Kommunistischen Partei liiert. Der russische
Einmarsch in Budapest, spätestens aber die Invasion in Prag, provozierte
dann den Bruch mit der Partei - eine Entwicklung, die durch die
libertär-radikalen, oft sogar antikommunistischen Tendenzen des
Pariser Mai 1968 noch verstärkt wurde.
In Deutschland besann man sich mit wachsendem Abstand zum Dritten
Reich stattdessen eines "Antifaschismus", der die Erwähnung des
Nationalsozialismus fast schamhaft vermied und den Holocaust hauptsächlich
in dem Sinne thematisierte, als sich die Nazi-Greuel als Endkonsequenz
des Kapitalismus darstellen ließen.
Man erfährt Ausführliches über die europaweite Arbeit des "Kongresses
für kulturelle Freiheit" in den fünfziger Jahren, über Melvin
Laskys "Monat" und François Bondys "Preuves" und findet noch einmal
schwarz auf weiß dokumentiert, dass die Pioniere der Antitotalitarismustheorie
mitnichten verschwiemelte rechte Relativierer waren, sondern linksdemokratische
Intellektuelle, die mit Mühe und Not beide Terrorsysteme überlebt
hatten. Margarete Buber-Neumann, im GULag und im KZ Ravensbrück
interniert; David Rousset, ein Résistancekämpfer und Buchenwald-Überlebender,
der sich bereits 1949 für die Deportierten in den sowjetischen
Lagern einsetzte; Alexander Weißberg-Cybulski, 1937 in der Sowjetunion
verhaftet, 1940 an Deutschland ausgeliefert, danach am Warschauer
Ghetto-Aufstand beteiligt.
Was ist der Grund für diese Amnesie, wie konnte es geschehen,
dass zu Gunsten abstrakter Faschismus-Kritik die verbrecherische
Realität des Kommunismus bis heute kaum zur Kenntnis genommen
wird? Ulrike Ackermann erklärt es mit dem abrupten Abbruch einer
Tradition. In Frankreich dagegen ein fortgesetztes Gespräch zwischen
dem liberalen Raymond Aron, dem ex-maoistischen André Glucksmann,
zwischen Daniel Cohn-Bendit und dem Historiker François Furet.
Schade, dass es - aus falscher Scheu? - nicht deutlicher erwähnt
wird: Die meisten dieser antitotalitären Intellektuellen sind
Juden, alte Résistance-Kombattanten wie der inzwischen aber neunzigjährige
Historiker François Fejtö oder Söhne Ermordeter wie André Glucksmann.
Sie wissen, dass Auschwitz selbstverständlich singulär war und
dass gerade aus diesem Grund der genaue Blick auf Vergleichbares
gerichtet werden muss. In Deutschland dagegen die germanischen
Scheingefechte zwischen linken und rechten Relativierern, Gremliza
und Wippermann versus Nolte und Mahler. Eine deprimierende Perspektive.
Marko Martin ist Autor eines Buchs über den "Monat" sowie Herausgeber
eines Auswahlbandes von 70 "Monat"-Essays aus vier Jahrzehnten.
(Beitz Athenäum Verlag, 2000. 591 S., 98 Mark).
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