PRINT (Auswahl):
Buch Stimmen aus dem Europäischen Forum
Buch Sündenfall der Intellektuellen
Gespräche
Essays/Artikel
Vorträge

REZENSIONEN
Sündenfall der Intellektuellen
 
1, 2, 3
FUNK (Auswahl):
Features
Kommenare/Essays
Mit geschlossenen Augen
Totalitarismus / Ulrike Ackermanns große Studie über deutsch-französische Missverständnisse

Michael Mertes / Rheinischer Merkur (18.08.2000)

Vom Antifaschismus der Nachkriegszeit bis zum Briefwechsel Furet-Nolte: Intellektuelle beider Länder taten sich schwer bei der Beurteilung des Kommunismus.
Vorsicht! Nicht jeder Antifaschist ist ein Anwalt der Menschenrechte - und nicht jeder Antikommunist ein aufrechter Demokrat. Das ist, kurz gesagt, eine der praktischen Schlussfolgerungen aus dem Totalitarismusbegriff. Dieses Konzept, das die Extreme von rechts und links übergreift, dient der Analyse von scheinbar völlig gegensätzlichen Systemen: dem italienischen Faschismus, dem deutschen Nationalsozialismus - und dem Sowjetkommunismus.
Unter den meisten deutschen Intellektuellen ist der Totalitarismusbegriff seit Ende der sechziger Jahre verpönt, während er unter französischen Intellektuellen - nach dem von Alexander Solschenizyn ausgelösten "Gulagschock" - in den siebziger Jahren glänzende Karriere machte. Dissidenten und Bürgerrechtler jenseits des früheren Eisernen Vorhangs hatten nie ein Problem damit.
Ulrike Ackermann erzählt, wie seit dem Beginn des Ost-West-Konflikts die Wege deutscher und französischer Schriftsteller, Historiker und Philosophen bei der Bewertung des Sowjetkommunismus auseinander liefen. Die heutige Lage verhält sich fast spiegelverkehrt zum Meinungsklima in den fünfziger Jahren. Damals war die französische Intelligenz mehrheitlich "positiv vom Totalitarismus kommunistischer Prägung fasziniert"; in Deutschland jedoch bestimmte das Klima "ein antitotalitärer Konsens, der zuweilen stark antikommunistisch eingefärbt war".

Ackermanns Buch spannt den Bogen vom Berliner "Kongress für kulturelle Freiheit" im Juni 1950 bis zum Briefwechsel zwischen François Furet und Ernst Nolte in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre.
Die von Melvin J. Lasky, Arthur Koestler, Ignazio Silone, Manès Sperber und anderen gegründete Internationale des Antitotalitarismus entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem subversiven Netzwerk, das bis zum Fall der Mauer den hoch infektiösen Bazillus unabhängigen Denkens in Ostmitteleuropa verbreiten half. Bemerkenswert ist die auf deutscher Seite klaffende personelle Lücke - von löblichen Ausnahmen wie Heinrich Böll einmal abgesehen.1966 enthüllte die "New York Times", dass der "Kongress für kulturelle Freiheit" zu großen Teilen von der CIA finanziert worden war. Damit brach diese Veranstaltungsreihe - nicht aber das aus ihr hervorgegangene Netzwerk von Freundschaften und solidarischen Kontakten - zusammen. Es gab einen großen Sturm der Entrüstung. Doch im Rückblick wird man die CIA dazu beglückwünschen dürfen, dass sie ihr Geld (ausnahmsweise?) gut angelegt hatte.

Für Ackermann drückt sich im anhaltenden Widerstand deutscher Intellektueller gegen den Totalitarismusbegriff nicht nur die Neigung aus, "die Deutschen nach 1989 als Tätervolk zu rehabilitieren". Sie führt diese Einstellung vor allem auf das "traditionsreiche linke Postulat zurück, wonach der Faschismus die höchste Form des Kapitalismus sei".
Der französische Historiker Furet war so souverän, im Werk seines deutschen Kollegen Nolte die nationalapologetische Spreu vom antitotalitären Weizen zu trennen - hierzulande würde zu einem solchen Unterfangen viel Mut gehören. Allzu leicht lässt sich in der Bundesrepublik intellektuelle Feigheit immer noch mit Angst vor "Beifall von der falschen Seite" bemänteln.
Bemerkenswerten Nonkonformismus legte deshalb der von Ackermann zitierte Nolte-Kritiker Heinrich August an den Tag, als er 1998 Winkler schrieb, der Sinn des argumentativen Verweises auf Auschwitz liege "offenbar darin, dass die Deutschen auserwählt wurden, das absolut Böse zu tun, und darum berechtigt, ja verpflichtet sind, ihren Negativrekord gegenüber unerwünschter Konkurrenz zu behaupten".

Ulrike Ackermanns Buch ist eine der wichtigsten und originellsten Neuerscheinungen dieses Jahres über die Zeit des Kalten Krieges - hervorragend dokumentiert und ein überzeugendes Beispiel dafür, wie dramatisch und spannend Ideengeschichte sein kann. Ausgiebig lässt Ackermann die Akteure selbst zu Wort kommen. So bleibt den Lesern in jedem Augenblick bewusst, dass es der Autorin nicht nur um Höhenflüge in das Reich abstrakter Gedanken geht, sondern auch und vor allem um Verdienst und Versagen konkreter Menschen.
Ideengeschichte präsentiert sich hier als großes Epos über den Widerstreit von Blindheit und Klarsicht, Feigheit und Mut. Nicht zuletzt Mut zur Korrektur eigener Irrtümer. Den finden wir etwa bei Jorge Semprún, der als spanischer Kommunist KZ-Häftling in Buchenwald gewesen war. Der Gulag-Schock nahm ihm die "Unschuld des Gedächtnisses"; es wurde Semprún unmöglich, sich weiterhin "in dem heiligen Öl des latenten guten Gewissens" zu baden. Er rang sich zu der Einsicht durch, "dass ich meine Erfahrungen in Buchenwald, Stunde um Stunde, mit der verzweifelten Gewissheit, dass es gleichzeitig russische Straflager ... gab, wiederaufleben lassen müsste".

Ulrike Ackermann gehört zu jenem relativ kleinen Kreis deutscher Intellektueller, die gegen alle Anfeindungen am Totalitarismusbegriff festgehalten haben und auch nie der Versuchung erlegen sind, die Freiheitsbewegungen im sowjetisch dominierten Teil Europas als destabilisierend, gar als Gefahr für den Frieden zu beargwöhnen. Wir wissen heute, dass sich die kleinen und großen Metterniche des Kalten Krieges, die westeuropäischen und nordamerikanischen Anwälte der scheinbar unumstößlichen "Ordnung von Jalta", gründlich geirrt haben. Genugtuung darüber ist der Autorin durchaus anzumerken, aber ein rechthaberischer Triumphalismus ist ihr fremd.
In der Tat: Bis auf den heutigen Tag verkennen viele Politiker und Publizisten den wahren Charakter blutiger Konflikte, weil sie Gefangene alter Denkmuster geblieben sind.
Ackermann erläutert das am Beispiel Jugoslawien: Es zählt mittlerweile zu den als unumstößlich geltenden Wahrheiten, dass sich während der neunziger Jahre auf dem Balkan ein "uralter Völkerhass" ausgetobt, dass dort ein "Kampf der Kulturen" oder gar ein "Religionskrieg" stattgefunden habe. Tatsächlich verantwortlich für das Blutvergießen waren indes jene (post-)kommunistischen Diktatoren, die den angeblich "uralten Völkerhass" zur Festigung ihrer eigenen Macht heraufbeschworen und dann instrumentalisierten. Erst die Etikettierung von Slobadan Milosevic als "Faschist" verschaffte ehemaligen Pazifisten wie Joschka Fischer die Legitimation, einer deutschen Teilnahme am Kosovo-Krieg zuzustimmen.
Die Tabuisierung des Totalitarismusbegriffs erschwert bis heute auch eine gründliche Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur. Als Hüterin des "Antifaschismus" immunisierte sich die PDS gegen Kritik, während sie gleichzeitig ein Instrument zur historisch-moralischen Diskreditierung politischer Gegner in der Hand behält. Hinter diesem Schutzschild pflegt sie die antiwestliche Nostalgie nach dem autoritären Staat, die sie mit der extremen Rechten teilt. Die auffällige Überschneidung der Wählerpotenziale von PDS einerseits und Parteien wie DVU oder NPD andererseits deutet darauf hin, dass die Wege vom sozialistischen zum völkischen Kollektivismus und wieder zurück wesentlich kürzer sind, als der "Antifaschismus" uns glauben machen will.
Es ist Zeit für eine Erneuerung des antitotalitären Grundkonsenses aus den Anfängen der Bundesrepublik. Wer das nicht glauben mag, dem wird Ulrike Ackermanns Buch zur Einsicht in die Notwendigkeit verhelfen."

 
1, 2, 3
   

Home 
Biografie Publikationen Links Kontakt